Kultur als Vehikel und als Opponent politischer Absichten. Deutsch-tschechisch-slowakische Kulturkontakte von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Teil 1: 19. Jahrhundert bis 1945

Kultur als Vehikel und als Opponent politischer Absichten. Deutsch-tschechisch-slowakische Kulturkontakte von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Teil 1: 19. Jahrhundert bis 1945

Organisatoren
Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission
Ort
Prag
Land
Czech Republic
Vom - Bis
25.09.2004 - 29.09.2004
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Von
Michaela Marek, Institut für Kunstgeschichte Universität Leipzig

"Kultur ist Reichtum an Problemen." Egon Friedells Definition gilt besonders für Unternehmungen wie diese: kulturelle Erscheinungen in ihrem historisch-politischen Kontext zu betrachten. Weder Aspekte der Alltagskultur noch Sternstunden der Hochkultur können, so die Ausgangsthese der Tagung, zur Gänze verstanden werden, wenn man sie aus ihrem konkreten Rahmen isoliert. Gleiches gilt aber nicht minder für politische Positionierungen, ja sogar Ereignisse.

Gerade in den nationalen, sozialen und politischen Emanzipationsprozessen des 19. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie hatte das Wechselspiel zwischen kulturellen Initiativen unterschiedlichster Art und politischem Handeln eine konstitutive Rolle gespielt, wobei beide Stränge keineswegs immer parallel verliefen: Abhängig von Situationen oder Gruppeninteressen konnten sie bis zur Deckungsgleichheit zusammen fallen oder weit divergieren; Phasenverschiebungen und - wechselnde - Vorreiter-Nachfolge-Verhältnisse stellten sich ein; symbolisches Handeln auf kulturellen Feldern kompensierte politische Abstinenz oder konterkarierte politische Entscheidungen. Die bis zum Ersten Weltkrieg entstandenen Muster des Wechselspiels, das in vielen Einzelfällen als ein strategisches zu werten ist, blieben prinzipiell auch unter den Bedingungen des Nationalitätenstaates der ersten Tschechoslowakischen Republik wirksam und setzten sich - wiewohl unter teilweise verschobenen Vorzeichen - noch in den radikal veränderten Konstellationen fort, die das Ende des Zweiten Weltkrieges und wenig später die Durchsetzung des kommunistischen Regimes geschaffen hatten. 1

Diese Voraussetzungen lassen die historischen Räume deutsch-tschechisch-slowakischen Kontaktes als besonders geeignetes Experimentierfeld für die Erprobung einer Politik und Kultur übergreifenden Betrachtungsweise von Geschichte erscheinen. Der Versuch, den diese Doppeltagung darstellt, steht im Zusammenhang der wieder auflebenden Debatte um Möglichkeiten und Grenzen kulturgeschichtlicher Forschungsansätze. Wird hier erklärt, dass die "permanenten Überschneidungen kultureller, sozialer und politischer Prozesse" als komplexe historische Realität nicht ohne weiteres künstlich entflochten werden können, so kreist die Debatte um Fragen, wie dieser Komplexität methodisch begegnet werden kann, und damit auch um Fragen der Be- und Abgrenzung dessen, was im Rahmen des Faches Geschichtswissenschaft als ‚Kultur' Berücksichtigung finden kann und was auszusortieren ist 2: sei es nach ‚unten', sei es zur Hochkultur hin. Letztlich geht es dabei immer auch um Grenzziehungen zu Nachbarfächern. Begreift man aber die (in unserem Fall: politischen) ‚Wirklichkeiten', die Historiker ungeachtet ihrer disziplinären Zuständigkeit verstehen wollen, als innerhalb je bestimmter Bedingungen stattfindende Kommunikations- und Verständigungsprozesse, die gleichzeitig sowohl direkt als auch in vielgestaltigen indirekten Formen und dabei keineswegs linear verlaufen 3, so wird man nicht umhin können, Kultur in einer offenen Auffassung des Begriffs als einen "Modus" dieses Diskurses zu betrachten - und nicht als ein "Accessoire" der Politik. 4

Damit aber werden die Grenzen der Geschichtswissenschaft - und nicht nur einer Kulturgeschichte, sondern auch der Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte und der Politikgeschichte - auf der einen Seite und der für Hochkultur zuständigen Nachbarfächer auf der anderen durchlässig. Eben dieser Durchlässigkeit gilt der Versuch, den ‚cultural turn' und weitere ‚turns' der Geschichtswissenschaft auf den gemeinsamen Nenner einer transdisziplinären Perspektive zurückzuführen. Dieser kann zugegebenermaßen nicht (mehr) beanspruchen, als innovativer Königsweg zur Lösung aller Methodenprobleme kulturgeschichtlicher Forschungen zu gelten: Er ist der Binnendifferenzierung des Faches Geschichte hinderlich, und vor allem ist Interdisziplinarität, weil sie allzu oft nicht eingelöst werden kann, in Gefahr, zu einem Schlagwort zu verkommen. Dennoch dürfte außer Frage stehen, dass inter- und transdisziplinäre Perspektiven das Potential haben, etliche der modischen ‚turns' innerhalb der Kulturgeschichte mitsamt den eigens dafür konstruierten Instrumentarien überflüssig zu machen. 5 Dies setzt freilich die Bereitschaft voraus, von den jeweils disziplinär kanonisierten Erkenntniszielen - teilweise auch den hierzu gehörigen Methoden - abzuweichen, um den Blick auf die mit der Fragestellung vorgegebene Schnittmenge zwischen den Fachinteressen zu konzentrieren und dies nicht allenfalls als Kürübung an der Peripherie des jeweiligen Faches zu betrachten.

Im Falle unserer Fragestellung erschien es ratsam, den Begriff Kultur in keiner Richtung einzugrenzen. Dies hatte zum Teil pragmatische Gründe, sollte aber vor allem helfen, im Sinne der ‚New Cultural History' den Blick offen zu halten für ein breites Spektrum von Möglichkeiten und für konstellationsbedingte chronologische Schwerpunktverlagerungen. Die Referate von Historikern verschiedener Fachrichtungen, Kunsthistorikern, Germanisten, Slawisten, Ethnologen und Theaterwissenschaftlern loteten überwiegend Bereiche kulturellen Lebens aus, die zeitweise Wellen von Politisierung unterlagen.

Eingangs fächerte Peter Haslinger (München) Bedeutungsaspekte von ‚Kultur' als eines "historischen Norm- und Kampfbegriffes im deutsch-tschechischen, tschechisch-slowakischen und slowakisch-ungarischen Nationalisierungskontext" auf. Hier kreuzten sich unterschiedliche Auffassungen des Begriffs Kultur, und dieser wurde zudem in verschiedener Intention eingesetzt. ‚Kultur' in der Bedeutung von ‚Zivilisation' und somit als "Kampfbegriff" zur Kompensation empfundener Rückständigkeit in der Selbstbeschreibung wie auch in der Konfrontation der vier nationalen Gruppen standen in einem nie geklärten und daher konfliktträchtigen Verhältnis verschiedene inhaltliche Füllungen insbesondere des Begriffs Nationalkultur gegenüber. Mit der Vorstellung einer homogenen - tschechischen - Sprachnation ließ sich etwa der ungarische Kulturbegriff, der weitaus stärker als die Sprache das zivilisatorische Moment der Modernisierung betonte, nur schwer auf gleicher Kommunikationsebene positionieren, zumal beide Auffassungen gleichzeitig nicht nur der In- und Exklusion potentieller Angehöriger der jeweiligen Gemeinschaft dienten, sondern auch der Begründung ihrer territorialen Ausdehnung. Als ein Beispiel für die Auswirkungen dieser Konstellation über historisch-politische Umbrüche hinweg führte Haslinger die Problematik des Tschechoslowakismus in der Slowakei nach 1918 an, wo die ‚slowakische Kultur' in Anlehnung an die tschechische von der ungarischen Kulturauffassung abzulösen war und zugleich als eigenständiges Gebilde gegen die tschechische abgegrenzt werden musste. Diese Inkongruenz der Kulturbegriffe hinsichtlich ihrer Inhalte - aber auch ihrer funktionalen Dimensionen als "Quellenbegriff" einerseits und analytische Kategorie andererseits, wie Martin Schulze Wessel (München) anmerkte - sollte die gesamte Tagung begleiten und letztlich kennzeichnen.

Eine erste Sektion war verschiedenen Bereichen der Künste gewidmet. Die Fragen galten sowohl Themen und Modi der Künste sowie ihren politisch-ikonographischen Funktionen als auch der politischen Tragweite der Aktivitäten von Institutionen bzw. Interessengruppen. Gleich im ersten Referat formulierte Birgit Jooss (München) eine Fülle bislang nie gestellter Fragen in Bezug auf die Kolonie tschechischer Kunststudenten an der Münchner Akademie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. München als Schauplatz einerseits eines internationalen Kunstgeschehens, andererseits immer wieder auch als Stätte einer spezifisch ‚deutschen' Kunst bedarf selbst noch vertiefender Untersuchungen. Für Künstler aus Böhmen war München eine nahezu selbstverständliche Station in ihrem Werdegang, doch sind Motive, Umstände und Wirkungen dieser Horizonterweiterung bis heute kaum geklärt. Lässt sich der Wunsch nach Auslandserfahrung überhaupt sinnvoll in einen Zusammenhang mit dem Prozess der nationalen Ausdifferenzierung innerhalb Böhmens bringen? Solange nicht bekannt ist, inwieweit die böhmische Künstlerkolonie in München nationale Orientierungen entwickelte und etwa die Rolle als Repräsentanz einer - noch zu formierenden und zu verfechtenden - tschechischen Nationalkultur annahm, bleiben auch Fragen nach dem Stellenwert Münchens als womöglich unterschwellig politisch ausgespielte Alternative zu Wien oder nach der Bedeutung von im Ausland erworbener Anerkennung für die Etablierung einer nationalen Kunst im eigenen Land offen.

Dass die Orientierung am Ausland auch später keineswegs die Überwindung der nationalen Identifikation bedeutete, zeigte Roman Prahl (Prag) an der "auswärtigen Politik" böhmischer Künstlervereine um 1900. Vertraten etliche der modernistischen Vereine die traditionelle Auffassung von Kunst als authentischer Äußerung nationaler Identität, so gewann eben dieses Selbstverständnis eine entscheidende Bedeutung im Rahmen der staatlichen Kunstpolitik in der Habsburgermonarchie. Die Regierung nutzte die Kunstförderung für nationalpolitische Zugeständnisse, die auf offener politischer Bühne nicht opportun erschienen. Umgekehrt trugen die Künstlervereine dazu bei, weiter reichende nationale Ansprüche zu artikulieren und diesen durch internationale Aktivitäten Nachdruck zu verleihen. Ein Beispiel hierfür bieten die Kontakte des tschechischen Künstlervereins ‚Manes' nach Paris, welche die Stadt Prag unterstützte und für ihre eigenmächtige, der staatsoffiziellen Außenpolitik zuwider laufende Allianzbildung instrumentalisierte. Mit Recht machte Prahl jedoch darauf aufmerksam, dass die auswärtige Repräsentation einer fortschrittlichen tschechischen Kunst keineswegs in erster Linie als symbolisch praktizierte Politik gemeint war, sondern durch Möglichkeiten der Verständigung über künstlerische Ziele gesteuert wurde und dazu diente, Märkte zu erschließen und ‚moderner' Kunst im eigenen - dem tendenziell konservativen Prager - Milieu Respekt zu verschaffen.

Ein Feld, auf dem explizite Politik durch die symbolische der Kunst sekundiert wurde, beleuchtete Werner Telesko (Wien): den "Kult" um Kaiser Joseph II., mit dem seit den 1880er Jahren vor allem im deutschsprachigen Nordböhmen die deutschnationale Bewegung bekräftigt und popularisiert wurde. Die Aufstellung zahlreicher ähnlicher, vielfach aus serieller Produktion stammender Denkmäler wurde stets auf ein kollektives, authentisches Bedürfnis der Bevölkerung zurückgeführt, Joseph II. als letzten ‚Schutzherrn' des - nunmehr als bedroht propagierten - ‚Deutschtums' in den böhmischen Ländern zu ehren. Der darin artikulierte Appell an das Kaiserhaus wurde mit ikonographischen Mitteln zusätzlich konkretisiert. So wählte man für die Denkmäler - und mehr noch in der in diesem Zusammenhang produzierten Druckgraphik und panegyrischen Dichtung - vorzugsweise Attribute bzw. Episoden aus der Vita Josephs II., die ihn als väterlich sorgenden Herrscher sowie als Garanten von Freiheit und Wohlstand kennzeichneten.

Ein Auseinanderklaffen von Identitätskonstruktionen entlang konfessioneller und damit verbundener politischer Linien innerhalb der deutsch sprechenden Bevölkerung im nordwestböhmischen Grenzland um 1900 führte Kristina Kaiserova (Usti nad Labem) vor. Insbesondere die deutschnationale Los-von-Rom-Bewegung und die Altkatholiken definierten ihre Positionen nicht nur inhaltlich, sondern auch mit Mitteln der Stilwahl in ihrer literarischen und publizistischen Produktion sowie in der Kirchenarchitektur und -kunst. Moderne und universale bzw. traditions- und gattungsgebundene Stilmittel transportierten Komponenten der unterschiedlichen Identifikationsangebote. Eine eher lokal wirksame Konkurrenzstrategie beleuchtete Zdenek Hojda (Prag) anhand von Aussichtstürmen und Berghütten in den deutsch-tschechischen Grenzregionen Böhmens. Vor dem Hintergrund aktueller Forschungen über symbolische Vereinnahmungen von urbanen Örtlichkeiten und Landschaften im Rahmen (nationaler) Konfliktlagen zeigte er den Forschungsbedarf und methodische Ansätze auf, darunter die Analyse von Gästebüchern von Gasthäusern oder Kennzeichnungen von Wanderwegen, vor allem aber der Aktivitäten - und der konkurrierenden Interaktion - von touristischen Vereinen beider Nationalitäten: Nicht nur provokative Anspielungen wie Kaiser Wilhelm- und Bismarcktürme auf böhmischem Territorium verdienten Beachtung, sondern auch subtilere Mittel symbolischer Politik wie Bauinitiativen und Besitz augenscheinlich neutraler Aussichtstürme und Berghütten mitsamt ihrem visuellen Radius oder auch periodische Aktionen wie ostentative Ausflüge in bereits andersnational vereinnahmte Gebiete.

Eine herausragende Bedeutung als Plattform der innerböhmischen nationalen Konkurrenz, auf die diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder aus dem offiziellen Politikbereich verwiesen wurde, kam dem Theater zu. Jitka Ludvova (Prag) zeichnete aber die Entwicklung des deutschsprachigen Theaters als Geschichte eines Niedergangs der Prager ‚deutschen' Theaterkultur, die aus der innenpolitischen Liberalisierung und der dadurch ermöglichten Entfaltung tschechischer Kultur resultiert sei. Ludvova führte die Schwierigkeiten des 1882 gegründeten deutschen Theaterbauvereins, den Neubau kostendeckend zu bespielen, auf eine abnehmende Bereitschaft der (um 1900 nur mehr wenige Zehntausend Personen zählenden!) deutsch sprechenden Bevölkerungsgruppe in Prag zurück, Flagge zu zeigen. Die Frage, wie eine derartige Initiative noch im ausgehenden 19. Jahrhundert politische Formen der Auseinandersetzung ersetzen konnte, blieb ebenso unberührt wie Fragen nach sozialgeschichtlichen Aspekten des Theaterbesuchs, welche als Teil des nationalen Differenzierungsprozesses zu sehen sind.

Fragen solcher Art richtete Ines Koeltzsch (Berlin) an "tschechisch- und deutschsprachige Kinowelten im Prag der Zwischenkriegszeit" und damit an einen Bereich, in dem übernationale Kulturproduktion konfliktfrei konsumiert werden konnte, solange sie nicht zwischen die Räder tagespolitischer nationaler Reibungen geriet. 1930 eskalierten in der so genannten ‚Tonfilmaffäre' Proteste gegen die Vorführung deutschsprachiger und deutscher Filme in Prager Kinos. Zuvor, aber auch bereits bald danach wieder dominierten mit Untertiteln versehene deutsche (und einheimische deutschsprachige) sowie englischsprachige Filmproduktionen, während tschechische Filme nur einen Bruchteil der Programme ausmachten. Die Filmunternehmer, überwiegend jüdisch und deutsch sprechend, bildeten mitsamt dem gesamten Personal eine international vernetzte Gesellschaft, die eben darauf ihren Erfolg gründete. Auf Seiten des Publikums spielten (sprach-)nationale Präferenzen keine Rolle, wobei das Hinnehmen der Differenz, so Koeltzsch, für alle sozialen Schichten und Gruppen wie auch politischen Richtungen gleichermaßen zu konstatieren sei: Protektionistische Maßnahmen waren so zugeschnitten, dass sie den Boom der Filmwirtschaft nicht empfindlich störten, und selbst erklärtermaßen nationalistisch eingestellte tschechische Politiker unterstützten die Vielfalt mit Blick auf die wirtschaftlichen Vorteile, aber auch auf das Image eines kulturell toleranten Volkes und Staates.

An den Referaten zu Themen der Literatur, der Publizistik und der Presse zeigten sich eindrücklich die Schwierigkeiten des Brückenschlags zwischen den Fächern. Differenzen standen schon der Verständigung über den Begriff des Politischen bzw. dessen Konkretisierung im gegebenen Zusammenhang im Weg: darüber etwa, ob Dialogen über innere Sprachgrenzen hinweg per se eine politische Relevanz zukomme, auch ohne dass Motivationen ausgeleuchtet und Wirkungen bewertet werden. So stellte Milan Zemko (Bratislava) in Bezug auf die vielsprachige Presselandschaft in Pressburg (Bratislava) fest, dass die Einbindung der Stadt in das neue Staatsgebilde der Tschechoslowakei weder im einschlägigen Markt noch im Leseverhalten der Konsumenten unmittelbare Veränderungen nach sich gezogen hat. Er schloss aus der "Multiethnizität" auf eine "Multikulturalität", fragte aber nicht nach dem wechselseitigen Verhältnis dieser - keineswegs für Pressburg/Bratislava allein charakteristischen - Normalität zu politischen Einstellungen, sei es bei Entscheidungsträgern in Politik und Pressewirtschaft oder in der Bevölkerung selbst. Die Existenz sprachlich sowie in der weltanschaulichen und politischen Ausrichtung differenter Zeitungen im Prag der Jahre um 1918 machte Sibylle Schönborn (Düsseldorf) zum Ausgangspunkt ihrer Reflexionen. In drei exemplarisch ausgewählten Feuilletontexten machte sie eine übereinstimmende Tendenz zur Beschwörung einer "labyrinthisch", aber integral konstruierten Idealwelt aus, welche man dem zeitgenössischen Zwang zur Spaltung der Identitäten entgegen gestellt habe. Sie ging davon aus, dass das Feuilleton prinzipiell als "geschützter Raum" eines allein auf kulturelle Anliegen konzentrierten, gegenüber allem Politischen autonomen Diskurses zu verstehen sei, der sich in verschiedenen Sprachen, gleichwohl ohne nationale (oder gar nationalpolitische) Schranken vollziehe. Ähnlich argumentierte auch Marek Nekula (Regensburg), der nochmals seine Auslegung der Zweisprachigkeit Franz Kafkas als Exempel für die allen nationalpolitischen Festlegungen zum Trotz von der maßgeblichen intellektuellen Elite gelebte kulturelle Einheit Prags erläuterte. Demgegenüber zeigte Jaroslav Med (Prag) am Beispiel des im mährischen Altreisch (Stara Rise) ansässigen, der Katholischen Moderne verpflichteten Verlegers Josef Florian und dessen Engagements für die Dichtung des Expressionismus, wie die "Unteilbarkeit der Kultur" (nur) in einer geographischen und geistigen Enklave gedeihen konnte.

Zwei weitere literaturwissenschaftliche Vorträge untersuchten mit der literarischen Produktion im deutschböhmischen und sudetendeutschen Milieu vermeintlich bekannte Bereiche, in denen Literatur in den Dienst politischer Propaganda gestellt wurde. Ernst Rohmer (Regensburg/Erlangen) analysierte das zwischen 1933 und 1938 von Hans Watzlik herausgegebene Blatt ‚Der Ackermann aus Böhmen'. Anhand programmatischer Beiträge aus allen Jahrgängen argumentierte Rohmer, dass es von Anfang an darum gegangen sei, mittels eines dem ‚Boden' und dem ‚Volk' verbundenen Literaturverständnisses eine sudetendeutsche Volksgemeinschaft in Opposition zu ‚den Tschechen' zu schmieden und diese als Teil des gesamten ‚Deutschtums' auszuweisen: dass also die Zeitschrift als ein Motor der nationalsozialistischen Ideologie im deutschsprachigen Böhmen zu werten sei. Die Frage, ob und in welcher Weise sie mit der Sudetendeutschen Heimatfront und später der DNSAP (Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei) verflochten war, bleibe allerdings noch zu klären. Hans Watzliks Wandel von einem ‚Heimatdichter' zu einem deutschnationalen Schriftsteller und DNSAP-Aktivisten zeichnete Václav Maidl (Prag) im Rahmen eines langfristigen Entwicklungsprozesses nach. So illustrierte er, wie in der Dichtung und Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Verbundenheit mit der engeren ‚Heimat' gegen die unmittelbaren Wirkungen der Modernisierungsprozesse und insbesondere gegen die Spaltung der Nationalitäten in Böhmen aufgeboten wurde. Bei Watzlik, der aus dieser Tradition hervorgegangen war, erkannte Maidl die Wendung zur Inszenierung des nationalen Antagonismus bereits in dem frühen Grenzlandroman "O Böhmen" von 1917.

Wissenschaftliche Deutungen der Geschichte tschechischer und deutscher Literatur in Böhmen, speziell der nationalsprachlichen Entwicklungsphase in der Zeit der Aufklärung, vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg analysierte Michael Wögerbauer (Wien). Er zeigte einerseits, wie die wechselnden historischen Konstellationen in der deutschböhmischen bzw. sudetendeutschen gleichermaßen wie der tschechischen Literaturgeschichtsschreibung nationale Legitimationsstrategien hervorbrachten. Andererseits mussten Ansätze zu einer territorial determinierten Betrachtung der literarischen Entwicklung in Böhmen oder zu einer komparatistischen Perspektive scheitern, weil sie nationalen Interessen zuwider liefen. Hier trat das Erkenntnispotential eines kombinierten, in diesem Fall literatur- und politikgeschichtlichen Ansatzes nochmals besonders anschaulich zu Tage, und sicher nicht zufällig erhob sich gerade in diesem Zusammenhang eine Stimme zur Verteidigung der wissenschaftlichen Würdigung von Literatur als "Kunst" unabhängig von äußeren Bedingtheiten.

An der Schnittstelle zwischen Politik und nationalkulturellen Interessen in der Gesellschaft waren das Schulwesen und die Wissenschaft als soziales Milieu angesiedelt. Zdenek Benes (Prag) und Mirek Nemec (Freiburg) beleuchteten die Auswirkungen der liberalen tschechoslowakischen Schulgesetzgebung. War die Gleichberechtigung aller in der Tschechoslowakei gebräuchlichen Sprachen garantiert, so hatte jedoch die gesetzliche Freiheit zur inhaltlichen Ausgestaltung des Schulunterrichts vielfältiges Problem- und Konfliktpotential zur Folge. In der Slowakei stellte Alphabetisierung nach wie vor ein Desiderat dar, und vorhandene Schulen mussten zugleich sprachlich ‚slowakisiert' und hinsichtlich der staatsbürgerlichen Erziehung ‚tschechoslowakisiert' werden, was freilich beides notgedrungen durch Lehrer aus den böhmischen Ländern geschah. Allgemein wurden die Konfliktpotentiale durch die großzügigen Rahmenbedingungen des Schulrechts nicht aufgehoben, sondern von der staatlichen Ebene auf die lokale verlagert. Vor allem in deutschsprachigen Gebieten gab es Kämpfe um Minderheitsschulen, die in aller Regel mit dem Wegzug jüngerer Familien endeten, so dass das an sich auf Minimierung der Nationalitätenproblematik ausgelegte Schulrecht letztlich zur Desintegration beigetragen habe. Zudem ermöglichten die Autonomierechte dem deutschen Schulwesen in der Tschechoslowakei selbst die Produktion und Verwendung von Schulbüchern, welche den staatlichen Vorgaben für die Erziehung zu staatsbürgerlichem Bewusstsein von 1928/29 unverhüllt widersprachen. Gleichzeitig aber nutzte die tschechoslowakische Regierung eben diese Konsequenz der Unterrichtsfreiheit in ihrer Außenpolitik gegenüber dem Deutschen Reich.

Ähnlich divergente Tendenzen konstatierten Jiri Pesek und Alena Miskova (Prag) auch für das universitäre Milieu und die Gesellschaft zur Förderung der deutschen Wissenschaft, Literatur und Kunst in Böhmen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert: Die Prager deutsche Universität wie auch die ‚Gesellschaft' wurden für die Propagierung eines segregativen deutschnationalen Selbstverständnisses ebenso genutzt wie für Bemühungen um Selbstbehauptung auf der Basis von Kooperation. Vor allem die Universität fand aber zumal wegen des hohen Anteils jüdischer Professoren und Studenten keine ungeteilte Akzeptanz in der Prager und böhmischen deutschen Bevölkerung, so dass sie für die nationale Gruppe nicht als einheitliche Elitenplattform fungieren konnte. In der Ersten Republik war sie nicht zuletzt dank ihrer personellen Verflechtung mit dem Parlament und auch der Regierung in den tschechoslowakischen Staat eingebunden und somit letztlich auf die staatsoffiziellen Strukturen nationalpolitischer Auseinandersetzung verwiesen. Die Fragwürdigkeit der nationalen Kategorie als Integrationsfaktor und politisches Argument im Prag der Jahre um 1900 illustrierte Christopher Dowe (Tübingen) eindrucksvoll am Beispiel studentischer Rituale in der städtischen Öffentlichkeit. Der ‚Bummel' Farben tragender deutscher Studenten wurde in Prag als Demonstration deutscher kultureller Vorherrschaft inszeniert und von Studenten der tschechischen Universität mit gleichen Mitteln beantwortet: Diese imitierten den ‚Wichs' und konkurrierten mit den deutschen Studenten um die symbolische ‚Besetzung' des städtischen Raumes. Unter den deutschen Studenten führte diese national zugespitzte Polarisierung jedoch keineswegs dazu, dass Differenzen auf anderen Feldern in der nationalen Identifikation aufgehoben worden wären. Soziale und vor allem religiöse Unterschiede erwiesen sich als weitaus stärker wirksam, so dass innerhalb der deutsch sprechenden Studentenschaft Konflikte um Zugehörigkeit zum ‚deutschen Volkstum' - insbesondere zwischen Juden und ultramontanen Katholiken - aufbrachen und es auch zu gemeinsamen antiklerikalen und antisemitischen Demonstrationen deutscher und tschechischer Studenten kam.

Auf das Feld einer allgemein gesellschaftsgeschichtlichen Betrachtungsweise von funktioneller Rezeption fremdnationaler Kulturelemente führten die Referate von Roman Holec und Dagmar Kostialova (beide Bratislava), die sich auf die Bedeutung ‚deutscher Kultur' im nationalen Emanzipationsprozess der Slowaken konzentrierten. Holec verfolgte die von den 1860er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg einem markanten Wandel unterworfene Relevanz kultureller Kontakte zum nachmaligen Deutschen Reich und vor allem zu München. Die Orientierung insbesondere an der deutschen Romantik in Literatur und Kunst erfüllte nicht zuletzt die Funktion der Abgrenzung gegen die politisch vorangetriebene ungarische Kulturhegemonie. Nach der Reichseinigung aber nahmen die konservativen katholischen Verfechter slowakischer kultureller Eigenständigkeit das Deutsche Reich als bedrohliche Übermacht wahr und sahen zumal bei Nietzsche die ehemals gemeinsamen Ideale preisgegeben. Demgegenüber hielt eine protestantische Fraktion an der kulturellen Verbundenheit mit dem Deutschen Reich fest, geriet damit aber in einen Konflikt mit den politischen Interessen der ‚tschechisch-slowakischen Gegenseitigkeit'. Kostialova beleuchte die Alltagswelt der Weinstuben und Kaffeehäuser Pressburgs bzw. Bratislavas, wo sich Freizeit-, Konsum- und Kommunikationsgewohnheiten als Prüfstein kultureller Identifizierungen erwiesen: Traf sich in den Kaffeehäusern die ungarische und magyarisierte Gesellschaft, so sammelten sich in den Weinstuben die deutschsprachigen und nach 1918 verstärkt die slowakischen Pressburger zu Vergnügen und Räsonnement. Weingenuss wurde mit künstlerischen und literarischen Debatten - einer deutsche und slowakische Differenz überwölbenden Boheme-Kultur - verknüpft und mit Weltoffenheit assoziiert, um dem Ruch eines slowakischen Provinzialismus zu entgehen.

Abschließend erläuterte Jürgen Nautz (Kassel/Wien) die Bedeutung des institutionalisierten Finanzwesens und der Geldpolitik in den nationalkulturellen Identifikationsprozessen in Cisleithanien. Die Machtkämpfe um wirtschaftspolitische Vorteile bzw. um Gleichstellung der über kulturelle Kriterien definierten nationalen Gruppen - besonders anschaulich gezeigt im Zusammenhang mit der Währungsreform bei Einführung des Goldstandards - spielten sich auch auf symbolischer Ebene ab: im Ringen um Sprachregelungen, um Gestaltung von Banknoten und Münzen, nicht zuletzt in national codierten Formen und Motiven in der Architektur und Ausstattung von Bank- und Sparkassenbauten. Das Moment der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer nationalen Kulturgemeinschaft konnte sich in dieser Konstellation selbst in vermeintlich ‚rein ökonomischen' Kriterien unterliegenden Entscheidungen wie bei der Vergabe von Krediten als ausschlaggebend erweisen.

Ingesamt hat die Tagung mit ihren vielfältigen Zugängen zu dem Thema ein realistisches Bild sowohl der Möglichkeiten und Hemmnisse transdisziplinärer kulturgeschichtlicher Forschung als auch der Forschung zum Zusammenleben der Deutschen, Tschechen und Slowaken wiedergegeben. Als bezeichnend für den Stand der Reflexion kann sicher gewertet werden, dass das Programm allenfalls punktuell dem Sog der innertschechoslowakischen (-böhmischen, -slowakischen) Perspektive entzogen werden konnte. Entsprechendes ist für die Dominanz der nationalen Kategorie in der Definition von Kultur wie auch Politik und des Verzichts auf Binnendifferenzierungen - etwa nach den Vorgaben von Jiri Koralka 6 - zu konstatieren. Des weiteren ist aus den allgemeinen Tendenzen der Forschung erklärlich, dass von den in der Themenstellung der Tagung nachgefragten Optionen für Kultur in ihrem Wechselspiel mit Politik weitaus überwiegend die ‚Vehikelfunktion' Interesse fand, während gegenläufige Bewegungen nahezu ausgeblendet blieben. Für das Gespräch über Fächergrenzen hinweg und die grundlegende Problematik der Verständigung über Begriffe ist hierbei charakteristisch, dass beispielsweise ein Ignorieren des politischen Kontextes je nach Perspektive auch als eine Art passiver Resistenz gedeutet werden kann. Die Diskussion berührte nur sporadisch das zentrale Problem, wie die Bruchstellen zwischen den fachspezifischen Begriffs- und Methodeninstrumentarien und nicht zuletzt auch Erkenntnisinteressen überbrückt werden könnten. Eben deshalb aber - nicht etwa: dennoch - kann die Tagung als anregender Beitrag zur Debatte verbucht werden. Zudem haben eine Reihe der Referate unmittelbar gezeigt, dass selbst Leistungen der Hochkultur auch in ihrer Funktion als symbolische Form politischer Willensbekundung - und umgekehrt ‚dekorative Accessoires' der Gesellschaftsgeschichte wie Kunst und Literatur als konstitutive Bestandteile des Sozialen und Politischen - wahrgenommen werden können, ohne dass Zuständigkeitsbereiche und Selbstverständnis der beteiligten Fächer grundlegend revidiert werden müssten.

Anmerkungen:
1 Im März 2005 wird die Tagung in Hamburg mit einem der Zeit von 1938/45 bis zur Gegenwart gewidmeten Programm fortgeführt.
2 Vgl. Hübinger, Gangolf: Die "Rückkehr" der Kulturgeschichte. In: Cornelißen, Christoph (Hg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung. Frankfurt/M. 2000, 162-177, hier 173. - Zur Problematik der Abgrenzung: Mergel, Thomas: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002) 574-606, hier 585f.
3 Dazu vgl. ebenda, 588f.
4 Ebenda 587 und 586.
5 Vgl. Roeck, Bernd: Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003) 294-315, der von einer begrenzten Kenntnis des Faches Kunstgeschichte aus die "Notwendigkeit, eine adäquate Quellenkritik [für Kunstwerke im Kontext historischer Fragestellungen] zu formulieren" (S. 313), zu erkennen meint.
6 Vgl. u. a. Koralka, Jiri: Fünf Tendenzen einer modernen nationalen Entwicklung in Böhmen. In: Österreichische Osthefte 22 (1980) 199-213.


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